Altenesch 1234: Die Stedinger, aufständische Bauern und von der Kirche verurteilte Ketzer, stehen einem Heer von Kreuzfahrern aus allen Teilen Europas gegenüber. Es ist eine blutige Schlacht, die in der Vernichtung des Bauernheeres endet. Knapp 700 Jahre später findet sich eine ganz andere Interpretation der Ereignisse: Helden, gefallen für Volk und Vaterland – das waren die Bauern für die deutschen Nationalsozialisten. Ab 1934 errichteten sie in Bookholzberg bei Oldenburg ihnen zur Ehre eine Kultstätte. „Stedingsehre“. Noch heute stehen die Bauten – vergessene Bühnen einer nationalsozialistischen Propaganda.
Es ist eine fast tragische Geschichte, die sich die Nationalsozialisten im Raum Oldenburg zu eigen machten und im Sinne ihrer Ideologie verdrehten: Als sich 1234 die Stedinger Bauern bei Altenesch zur Schlacht stellten, war es eine Verzweiflungstat, die letzte Konsequenz aus ihrem Widerstand gegen den Erzbischof von Bremen. Der Schlacht war eine lange Auseinandersetzung vorausgegangen, denn der Bremer Erzbischof versuchte seinen Machtbereich von Bremen aus weiter nach Westen auszudehnen. Die Abgaben, die er von den dort ansässigen Stedinger Bauern verlangte, verstießen aber nach deren Vorstellung gegen ihre alten Rechte. Was genau diesen Konflikt ausgelöst hat, ist bis heute umstritten. Klar ist: Die Bauern widersetzten sich über Jahtzehnte. Erst als Papst Gregor IX. sie als Ketzer verurteilte, gelang es dem Bremer Erzbischof ein ausreichend großes Heer zusammenzustellen und gegen die aufsässigen Bauern in die Schlacht zu schicken. Wer 1234 nicht in Altenesch starb, der floh, wurde von den plündernden Kreuzrittern niedergemacht oder endete als Ketzer auf dem Scheiterhaufen.
Für die freien Stedinger Bauern war die Schlacht von Altenesch der Untergang – gleichzeitig war sie der Beginn einer blühenden Legendenbildung. Bereits in den mittelalterlichen Quellen ist Dichtung und Wahrheit nur schwer auseinander zu halten. Doch erst in der Neuzeit begann eine heroisch ausgeschmückte Verdrehung der Geschichte, die ihren Höhepunkt fand in der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der historischen Überlieferung.
Im Sinne der Blut- und Boden-Ideologie feierten die norddeutschen Nationalsozialisten ihre Ahnen mit Schauspielen und Paraden und errichteten ihnen zur Ehre und als Denkmal eine riesige Freilichtbühne: „Stedingsehre“ sollte, so der Plan in den 1930er Jahren, das norddeutsche Gegenstück zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth werden, zu den Passionsspielen in Oberammergau. Die Abstammung – also das Blut und der Boden – galten im Sinne der Ideologie als die wesentliche Lebensgrundlage. Verbunden mit Rassismus und Nationalismus idealisierten die Nationalsozialisten das Bauerntum alter Abstammung – und in diesem Sinne auch die Stedinger Bauern.
Über die Bedeutung der Bühne auf dem Bookholzberg schreibt der Oldenburger Geschichtsprofessor Gerhard Kaldewei: „Stedingsehre ist ein Beispiel für Geschichtsverfälschung im Sinne ideologischer Indoktrination.“
Als die Schlacht von Altenesch sich 1934 zum 700. Mal jährte, führten Schauspieler der Niederdeutschen Bühne Oldenburg das Stück „De Stedinge“ auf, das der Oldenburger Heimatdichter August Hinrichs zu diesen Anlass verfasst hatte. Ort der Aufführung war Altenesch – ganz in der Nähe des mittelalterlichen Schlachtfeldes. Das Stück hatte keine explizit nationalsozialistische Tendenz, doch eignete es sich in seiner heroischen Ausgestaltung wie kein anderes Werk über die Stedinger für eine nationalsozialistische Ausschlachtung. Hinrichs selbst wurde erst 1937 Mitglied der NSDAP, zu einem Zeitpunkt als das Stück bereits den Zenit seiner Berühmtheit überschritten hatte. Nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft, ist Hinrichs Rolle bis heute umstritten. Seine niederdeutschen Schwänke wurden auch nach 1945 weiter aufgeführt, doch ein Ruhmesgedicht auf Adolf Hitler und seine Ernennung zum Ehrenbürger Oldenburgs – nebst Hitler und Gauleiter Röver – lassen Kritiker daran zweifeln, dass Hinrichs lediglich Mitläufer und nicht ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus war.
30.000 Menschen sollen am 27. Mai 1934 die Uraufführung auf einer provisorischen Bühne in Altenesch gesehen haben. Am 30. Mai wurde das Stück anlässlich eines Jugendtages erneut aufgeführt – vor rund 20.000 Kindern.
Schon früh traf sich im Umfeld der Verehrer der alten Stedinger die nationalsozialistische Prominenz: Neben dem NSDAP-Reichsstatthalter und Gauleiter der Region Weser-Ems, Carl Röver, waren auch Reichsbauernführer Richard Walther Darré und Reichsleiter und Nazi-Chefideologe Alfred Rosenberg bei den Feiern 1934 in Altenesch zugegen.
Als am 29. Oktober 1934 schließlich der Grundstein gelegt wurde für den „Thingplatz auf dem Bookholzberg“, die „Kultstätte Stedingen“, erschien selbst Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Geschichtsmythen, Germanenverklärung und obskure Sterndeutungs- und Wiedergeburtstheorien sollten nach Himmlers Vorstellung als eine Ersatzreligion der SS-Elite dienen. In die Öffentlichkeit trat Himmler mit seinen Ideen nicht, sie erklären aber seine Beteiligung an der Idealisierung der Stedinger Bauern. NS-Chefideologe Rosenberg sagte anlässlich der Grundsteinlegung über die Stedinger: „Ein Volk ist tot, wenn es keine Vergangenheit besitzt, die lebendig in das Leben der Gegenwart hineinragt.“
Es war Gauleiter Carl Röver, der den Bau der Gedenkstätte und Freilichtbühne auf dem Bookholzberg förderte. Röver selbst war gebürtiger Stedinger und so verwundert es kaum, dass er die ideologische Ausschlachtung des Stedinger Bauerkampfes im Sinne einer Selbstverklärung vorantrieb. Nach dem großen Erfolg der Uraufführung beschloss Röver das Stück alle zwei Jahre als ein Massenspektakel aufführen zu lassen – nicht nur ähnlich den Wagner Festspielen, sondern auch orientiert an der sich großer Popularität erfreuenden nationalsozialistischen Thing-Schauspiel-Bewegung. Röver galt als einer der glühendsten Verehrer des Heimatdichters August Hinrichs und seines Stedinger-Stückes. Im Programmheft des Stückes von 1937 schreibt er: „700 Jahre bedurfte es, um die Größe des Kampfes der Stedinger Freibauern zu erkennen und der Allgemeinheit zu offenbaren.“ Die Stedinger in Hinrichs Stück seien Vorbilder des deutschen Volkes: „Möge in den nächsten 700 Jahren und für alle Zukunft ‚Stedingsehre’ jenes große Werk sein, welches als unvergängliches Mahnmal der jetzigen und den kommenden Generationen die Erkenntnis bringt, dass es keine höhere und größere Offenbarung der ewigen Schöpfung gibt, als den täglichen Einsatz für sich und die Seinen zur Erhaltung des Volkstums, der Art und der Rasse.“
Die Bühne auf „Stedingsehre“ wurde gerade einmal zwei Jahre und nur im Sommer bespielt, umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass in dieser kurzen Zeit etwa 230.000 Zuschauer das Stück anschauten. Allein in der ersten Spielsaison 1935 sahen 80.000 Zuschauer das Stück, in den 12 Aufführungen von 1937 waren es sogar 150.000. Auf angrenzenden Feldern mussten Parkplätze eingerichtet werden und zu den Spieltagen fuhren Sonderzüge zum nahe gelegenen Bahnhof in Grüppenbühren. Die Bekanntheit des Stückes ging über Norddeutschland hinaus: 1936 lief im Vorprogramm der deutschen Kinos ein UFA-Kurzfilm über die Aufführung von „De Stedinge“.
Der Architekt Ernst Behrens entwarf in der Folge hochtrabende Pläne für die weitere Bebauung des Bookholzberges – Architektur im Sinne des Gigantismus eines Albert Speer. Bereits nach Rövers Idee sollte auf dem Bookholzberg ein einzigartiges Nationaldenkmal und eine NS-Erziehungsstätte errichtet werden – inklusive einer Gauschule. Doch angesichts des Zweiten Weltkrieges blieb das meiste davon Makulatur. Auch mit den Aufführungen von “De Stedinge” war 1937 Schluss – nicht nur, weil Carl Röver seine Machtposition einbüste, sondern auch, weil das Schauspiel vom Opfergang eines Volkes nicht mehr so ganz in die Propaganda der Kriegsjahre passte. Siegesgewissheit – das war jetzt die Idee der Zeit.
Die mythische Erhöhung historischer Personen und Ereignisse ist nicht nur ein Phänomen des Nationalsozialismus. Bereits im deutschen Kaiserreich begann eine mythische Überhöhung der deutschen Geschichte. Friedrich I. wurde so zu einem Begründer des deutschen Kaiserreichs und Heldengestalten wie Hermann der Cherusker oder der Sachsenfürst Widukind zu Urvätern der Deutschen. Gerade Widukind und das Sachsentum waren auch Teil der Propaganda norddeutscher Nationalsozialisten. In die gleiche Richtung geht die Idealisierung des deutschen Bauerntums und der Stedinger. Ihr Handeln wurde interpretiert als Freiheitskampf gegen ausländische Mächte – gegen Ritter aus Frankreich und den Papst. Damit versuchten die Nationalsozialisten den mittelalterlichen Freiheitskampf mit dem „Überlebenskampf des deutschen Volkes“ in der neueren Geschichte gleichzusetzen. In diesem Sinne waren auch andere Projekte im Oldenburger Raum: 1942 malt Jan Oeltjen das Bild „Die Schlacht bei Altenesch“ ganz im Sinne der Blut- und Boden-Ideologie der Nationalsozialisten. 1934 wurde die Turmhalle der St. Aegidius Kirche in Berne am Rand des Stedingerlandes zur „Stedinger-Gedenkhalle“ umgebaut: Professor Bernhard Winter fertigte dazu Wandmalereien an, die er zuvor in der Mappe „De Stedinge“ skizziert hatte und verband dies mit der Moderne durch eine Darstellung des Reichserbhofgesetzes von 1933 – ebenfalls Ausdruck einer das Bauerntum verklärenden Ideologie.
1939 wurde die Bühne von „Stedingsehre“ zum letzten Mal mit großem Pomp genutzt: Autor Hinrichs ließ dort sein neues Stück „Steding Renke. Spiel vom Opfergang eines Volkes“ aufführen. Zudem feierten die Nationalsozialisten eine groß angelegte Sonnenwendfeier. 1943 zerstörte eine Fliegerbombe die Kirche des Kulissendorfes. Alle anderen Gebäude sind noch heute erhalten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges genehmigte die britische Militärregierung die Nutzung des Bookholzberges als Kriegsversehrtenschule. Seit 1954 wurde auch die Bühne wieder genutzt: Am 27. Mai feierten Vereine und Verbände der Region die 720-Jahr-Feier der Schlacht von Altenesch – ohne Reflexion über die nationalsozialistische Belastung solcher Feiern. Auch nutzten Spielmanns- und Musikzüge die Freilichtbühne immer wieder für Musikwettbewerbe. 1992 wurde „Stedingsehre“ unter Denkmalschutz gestellt, wegen der „herausragenden Bedeutung als Kulturdenkmal“. Zu einer Aufarbeitung der Geschichte von „Stedingsehre“ kommt es erst in der jüngsten Zeit seit Gründung eines Arbeitskreises. Wie allerdings die Geschichte der Bühne aufgearbeitet werden soll – das ist bis heute in Bookholzberg umstritten.
Jessica Holzhausen, April 2010